Enorme E-Normen
Die neue Aufzugsnorm EN 81-80 hat die Wiener Ziviltechniker und den Magistrat der Stadt Wien aufgerüttelt. Aus der Norm lasse sich weder eine kurzfristige Nachrüstung noch eine neuerliche Überprüfungspflicht aller Aufzüge in Wien begründen.
Abschätzung der Notwendigkeit zur neuerlichen Nachrüstung bestehender Aufzüge auf den Stand der Technik – Rechtliche und sicherheitstheoretische Betrachtungen. So lautet der eher sperrige Titel eines Dokuments, das sich mit der neuen Aufzugsnorm EN 81-80 und mit ihrer Umsetzung in die Praxis auseinandersetzt. So sperrig der Titel auch sein mag, so substanziell und tiefschürfend ist das achtseitige Papier, das den Abschlussbericht einer Arbeitsgruppe mit Experten der Ziviltechnikerkammer für Wien, NÖ und Burgenland und dem Magistrat der Stadt Wien darstellt.
Im Grunde genommen geht es um das alte, leidige Thema, dass sich Lobbyisten Normen derart gestalten lassen können, dass diese ihr Geschäft beflügeln. ZT-Präsident Erich Kern sieht das Problem in der Zusammensetzung der Normungsgremien, in denen Prüforganisationen wie der TÜV das Wort führen, die Steuerzahler aber nicht vertreten seien. Es sei „verständlich“, dass die Industrie für mehr Überprüfungen lobbyiere, denn wenn beispielsweise das Überprüfungsintervall von jährlich auf halbjährlich erhöht werde, verdopple sich der Umsatz der Branche. Und das sind in Europa Milliarden an Euro. So würde allein die zusätzliche Überprüfung auf Einhaltung der Norm, eine „Sonderinspektion“, wie Peter Bauer, Stellvertretender Vorsitzender der Sektion Ingenieurkonsulenten, sie nennt, für die 46.000 Aufzugsanlagen in Wien rund 14 Millionen Euro kosten. Eine Überprüfung ist in dieser Rechnung mit rund 300 Euro pro Anlage angesetzt. Und das „für ein jetzt schon sicheres Verkehrsmittel“, wie Kern, Präsident der Ziviltechniker für Wien, NÖ und Burgenland erklärte. Allein auf die Stadt Wien entfielen davon 2,7 Millionen Euro an Steuergeld. Müssten alle 46.000 Wiener Aufzugsanlagen nachgerüstet werden und setze man nur einen Mindestsatz von 1.000 Euro dafür an, dann ergäbe das schon 46 Millionen Euro mehr Umsatz für die Branche. „Da wird der Fokus auf die falschen Dinge gelegt – und zwar nicht unabsichtlich“, mutmaßt Kammerpräsident Kern. „Das Geld könnte in anderen Bereichen, zum Beispiel für die Prävention von Todesfällen durch gefährliche Keime, sinnvoller eingesetzt werden und zu einem deutlich höheren Sicherheitsgewinn führen“, meint Kern. Er betont ausdrücklich, dass die Ziviltechniker in dieser Sache keine Eigeninteressen verfolgten.
Ziemlich deutlich wird das oben angesprochene Dokument auf Seite 2:
„Eine neuerliche gesetzliche Überprüfungspflicht aller Aufzüge ist aber aus heutiger Sicht in Wien – wie die nachfolgenden Betrachtungen zeigen werden – nicht erforderlich“. Die Reichweite des Dokuments wird mit dem Hinweis ergänzt, dass es sich zwar an den Wiener baurechtlichen Bestimmungen orientiere, die vorgestellte Methode aber grundsätzlichen Charakter habe und auch auf andere Bundesländer übertragen werden könne. Nach der europäischen Norm wäre das Sicherheitsrisiko neu zu bewerten gewesen, erläutert Peter Bauer, Bauingenieur und Abteilungsleiter am Institut für Architekturwissenschaften der TU Wien sowie Partner der werkraum ingenieure, im Gespräch mit Building Times. „Zu dieser Neubewertung haben wir aber auf Anforderung weder national noch auf EU-Ebene irgendwelche Daten bekommen, weil es sie offenbar nicht gibt“. Die Alternative wäre die Stilllegung von Aufzügen. „Aber dann müssten wir die Leute über die Treppe jagen und damit das Sturzrisiko erhöhen“. Übrigens hat es seit 2010 keinen einzigen Todesfall im Zusammenhang mit der Nutzung eines Aufzuges gegeben, wie die Dokumentation zeigt.
Die Wärmedämmlobby, nennt der Professor ein anderes Beispiel, könne sich ausrechnen, was zwei Zentimeter mehr Dämmstärke an Umsatz brächten. Es müsse aber eine gesellschaftspolitische Debatte darüber geben, wofür Mittel aufgewendet werden sollten, wenn sie da seien. Wozu das von Bauer zitierte Schutzziel der Aufzugsnorm hervorragend passt, nämlich der „Schutz vor Unachtsamkeit und unbewusster Sorglosigkeit der Benutzer“. Nachsatz: Dann müssten die Stiegenhäuser mit Schaumgummi ausgekleidet werden. „Oder wollen wir den Leuten das Handy wegnehmen, weil sie nicht auf die Straße schauen?“
„Wir wissen aber, dass totale Sicherheit technisch nicht möglich ist“, hält TU-Professor und ZT-Funktionär Bauer fest. Oder frei nach Erich Kästner: „Leben ist immer lebensgefährlich“. Jedenfalls kommt das Dokument der Arbeitsgruppe aus Ziviltechnikern und Magistratsbediensteten zur Conclusio: „Auf Basis der Unfalldaten, die dieser Arbeitsgruppe zur Verfügung standen, lässt sich weder eine kurzfristige Nachrüstung noch eine neuerliche gesetzliche Überprüfungspflicht aller Aufzüge in Wien begründen. Der Nutzen bzw. Zuverlässigkeitsgewinn einer neuerlichen Überprüfung und Nachrüstung der Personen- und Lastenaufzüge in Wien würde in keinem vertretbaren Verhältnis zu den anfallenden Kosten stehen“.
Da die EN als nationale Norm übernommen werden wird, sieht Bauer nur eine Möglichkeit, dem Dilemma zu entkommen: „Der Normenbeirat könnte auf internationaler Ebene Verbündete suchen, um solche Entwicklungen zu beeinflussen“.