Der Second Life-Tower
Frederik Jacobs ist Architekt und CEO der niederländischen Conix RDBM Architects. Und er ist ein Pionier im Bauen mit Urban Mining. Der Multi Tower in Brüssel zeigt, wie das geht.
Das Bauen verändert sich gerade radikal. Und das ist auch notwendig, denn allein in Europa gab es im Jahr 2020 850 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle. Der aktuelle Anteil der Bau- und Immobilienbranche an den weltweiten CO2-Emissionen beträgt satte 37 Prozent. Der Anteil der Bau- und Abbruchabfälle am Gesamtabfallaufkommen in der EU liegt bei fast 40 Prozent. Gleichzeitig gibt es eine geschätzte Gesamtmenge der in Gebäuden enthaltenen Rohstoffe in Deutschland von 15 – 16 Milliarden Tonnen. Grund genug, sich mit Urban Mining – also der Gewinnung wertvoller Materialien aus Abfällen – ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Region Brüssel hat das getan: Sie hat bereits 2019 ehrgeizige Strategien für die Circular Economy verabschiedet, die den Abriss von Gebäuden in der Region nur noch dann erlauben, wenn ein guter Urban Mining-Plan vorliegt. Und dass das auch in echt direkt im historischen Zentrum von Brüssel geht, bewies Frederik Jacobs, Architekt und CEO der niederländischen Conix RDBM Architects: „Die Idee, dass wir immer wieder von vorne anfangen müssen, um neue Gebäude zu errichten, ist nicht zwingend notwendig. Vielmehr sollten wir erkennen, dass Menschen sich besser an bestehende Gebäude und Umgebungen anpassen können. Im Jahr 2016 erhielt ich den Auftrag von einer renommierten Firma, die zuvor hauptsächlich als Immobilienverwalter tätig war. Gemeinsam mit meinem Team begannen wir, eine Bestandsaufnahme der Gebäude durchzuführen, um herauszufinden, was wir tun können und wie wir die vorhandenen Strukturen nutzen können.“ Ziel war es, eine Balance zwischen Investitionen in die Gebäude und den potenziellen Erträgen zu finden.
Zweites Leben für den alten Turm
Heraus kam der Multi Tower. Der H-förmige Turm auf seinem dreistöckigen Sockel bekam ein zweites Leben. Die umfassende Renovierung des Brouckère-Turms aus den 1960er-Jahren macht ihn zu einem erstklassigen Gebäude und ermöglicht flexible Büroflächen in Kombination mit öffentlichen Räumen und Einrichtungen, die sich perfekt in das sich entwickelnde Viertel einfügen. Der Multi Tower trägt auch zum Erfolg des öffentlichen Bereichs um das Gebäude mit der Fußgängerzone bei. Er hat 44.000 m² verteilt auf 19 Stockwerke und bietet Arbeitsplatz für über 2.000 Personen. Das multifunktionale Bürogebäude mit einer Deckenhöhe von 2,69 m beinhaltet Büroräume, einen Konferenzbereich, zwei Restaurants und ein Café, öffentliche Parkplätze für 527 Fahrzeuge und 260 Fahrräder plus zwei Stadtgärten auf dem Dach im dritten Stock. Durch die Installation von Luft-Wasser-Wärmepumpen ist Multi das erste fossilfreie Bürogebäude seiner Größe in Brüssel. Sowohl im Inneren des Gebäudes als auch bei der Verwendung von Materialien, die von anderen Standorten stammen, wie z. B. die Jules-Wabbes-Fliesen in den allgemeinen Bereichen, wurde dem Thema Circular Economy große Aufmerksamkeit geschenkt.
Herausforderungen und Lösungen
Frederik Jacobs schildert: „Zu Beginn war es eine große Herausforderung, alte Materialien aus bestehenden Gebäuden zu verwenden, aber wir erkannten schnell, dass dies nicht nur ökologisch sinnvoll ist, sondern auch kreative Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Die Materialien, die wir verwendet haben, stammen größtenteils aus bestehenden Strukturen. Es gibt eine große Nachfrage nach nachhaltigen Materialien. Wir hatten die Möglichkeit, Fliesen wiederzuverwenden, sodass eine Fliese zu mehreren neuen Fliesen wurde. Für den Innenbereich benötigen wir nicht die gleiche Dicke, was uns ermöglicht, mehr Bodenfläche mit dem gleichen Gewicht zu schaffen. Wir haben ein BIM-Modell erstellt, um alle Materialien zu identifizieren. Das ist eine enorme Herausforderung, da viele Faktoren berücksichtigt werden müssen. Und wir haben auch neue Materialien für die Fassade in Betracht gezogen, um die Kreislaufwirtschaft zu fördern.“ Denn das Bauen mit Vorhandenem erfordert gerade vom Architekten und seinem Team eine ganz neue Flexibilität. Denn es geht bei diesen Gebäuden um Material-Größenordnungen, die nicht von heute auf morgen verfügbar sind. Denn auch wenn Materialplattformen wie RotorDC gebrauchtes Material verfügbar machen, ist es ja nicht zwingend jenes, dass der Architekt von Beginn an so konzipiert hätte. Gleichzeitig gibt es aktuell mit vielen Materialien gar keine Erfahrungswerte. Jacobs erzählt: „Wir haben auch Materialien untersucht, wie Aluminiumprofile, und forschen, wie wir diese reinigen und beschichten können. Es ist wichtig, die richtigen Materialien auszuwählen, die in die Kreislaufwirtschaft integriert werden können.“ Aktuell arbeiten sie an einem Projekt für die Universität, bei dem sie ein Design erstellen und im Wettbewerb nachweisen müssen, wie viele Kilogramm welchen Materials verwendet wird. Trotz Wiederverwendung müssen sie auch die Bauvorschriften im Auge behalten, die sich zwischen Wohn- und Bürogebäuden unterscheiden. Hier schildert Jacobs, dass es entscheidend ist, mit Expert:innen zusammenarbeiten, um die besten Lösungen zu finden. So waren beim Multi Tower anfangs schon die Türen aus einem anderen Objekt reserviert, konnten dann aber nicht wie gedacht verwendet werden, weil es schlicht an einer Brandschutz-Zertifizierung gescheitert ist. Bisher war gesetzlich keine Wiederverwendung vorgesehen. Damit ist die Zertifizierung dafür auch noch nicht existent. In dem Fall war es dann tatsächlich kosteneffizienter einfach andere – noch nicht gebrauchte – Türen zu verwenden. Bauen mit Urban Mining ist also im Moment noch an vielen Ecken ein Trial and Error.
80 Prozent wiederverwendet
Umso wichtiger, dass es sich Architekten wie Frederik Jacobs auf die Fahnen heften: „Die Motivation, an diesen Projekten zu arbeiten, ist groß, da wir sehen, welchen Einfluss unsere Arbeit auf die Stadt hat. Beim Multi haben wir über 80 % der Materialien aus bestehenden Gebäuden wiederverwendet. Das zeigt, dass nachhaltige Architektur nicht nur möglich, sondern auch profitabel ist. Wir sind Pioniere in der Implementierung von Passivhausstandards und energieeffizienten Lösungen. Es ist wichtig, dass wir den Fokus auf Renovierungen legen, anstatt neue Gebäude zu errichten, um die Umwelt zu schonen.“ Der Multi Tower ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es tatsächlich geht. Er ist mit Breeam Excellent ausgezeichnet und gehört damit zu den besten 10 Prozent der neuen belgischen Bürogebäude. Er hat einen hohen Kreislaufanteil der Baumaterialien. 89 Prozent des vorhandenen Betons wurden wiederverwendet, wodurch 3.259 Tonnen gebundener Kohlenstoff eingespart wurden. Es gab dadurch 20.000 Tonnen weniger Abfall; 2.222 weniger Zementlastwagen und 2.000 Fahrten weniger von Zementlastwagen. Durch die hochenergieeffizienten Installationen wurden auch die Energieeinsparungen enorm erhöht. Und es ist ein gesundes Gebäude, das ein außergewöhnlich geringes Risiko der Virenverbreitung durch seine hervorragende Luftzirkulation hat. Jacobs abschließend: „Es ging nicht nur darum, die Materialien zu optimieren, sondern auch darum, den öffentlichen Raum, um das Gebäude zurückzugewinnen und die Verbindung zur Stadt zu stärken. Wir schlossen Straßen, um Fußgängerzonen zu schaffen und öffneten die Lobby des Gebäudes, um eine einladende Atmosphäre zu schaffen. Wir haben über 80 Prozent der Materialien aus bestehenden Strukturen wiederverwendet. Das zeigt, dass nachhaltige Architektur nicht nur möglich, sondern auch profitabel ist. Indem wir die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft in unsere Entwürfe integrieren, können wir eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft gestalten.“